Satans jüngste Tochter wird erwachsen

„Thelma“ beginnt mit einer Prelude voll aufgeladener Bedeutung: Ein Vater und seine kleine Tochter gehen jagen. Im Wald ein Reh. Der Vater greift zur Flinte und zielt, seine Tochter steht neben ihm. Die Augen fixieren das Tier neugierig. Sie hat keine Angst, dem Sterben zuzusehen, keine Angst die Wahrheit von Leben und Tod, Macht und Ohnmacht zu erkennen. Und sie hat keine Angst vor dem Vater, der inzwischen die Waffe nicht mehr auf das Reh, sondern auf das Mädchen richtet.

Zehn Jahre später. Eine phänomenale Supertotale auf einen Platz in Oslo. Menschen wimmeln, die Musik ist sanft, aber leicht unangenehm. Es ist etwas Unheimliches in diesem Bild, etwas, das sich dieser Exposition noch entzieht, die es verorten, erkennen will. Der Zoom verrät schließlich die Quelle des leicht entrückten Schauderns: Thelma. Sie ist das Mädchen aus dem Wald, nun erwachsen und auf den ersten Blick eine schüchterne, junge Frau, die erstmals in der Großstadt unterwegs ist. Sie hat eben begonnen, an der Uni Biologie will zu studieren. Nichts scheint ungewöhnlich an ihr zu sein und doch ist da etwas Beunruhigendes. Etwas an Thelma stört, als ob in ihr eine leichte Phasenverschiebung zu Gange wäre, die man geradeso erahnen kann und sie doch nicht einzuordnen weiß. Thelma weiß das. Und ihre Eltern wissen es auch. Täglich rufen sie an, erwarten einen Tagesbericht, kontrollieren ihren Stundenplan online. Die Mutter übt ihre Kontrolle über Krankheit, Angst und emotionale Erpressung aus, der Vater über eine unausgesprochene Gesetzlichkeit, die ihm Macht verleiht. Ein leichter Akt, er hat eine ganze patriarchale Gesellschaftsstruktur auf seiner Seite, die ihm die Erlaubnis gibt, die Frauen seiner Familie zu kontrollieren. Außerdem ist er Arzt und hat damit Autorität und Mittel. Und zur Sicherheit hat er für Thelma ein weiteres Vater-Gesetz etabliert: die Familie ist äußerst christlich orthodox, der Vater der familieninterne Priester, der die Beichte verlangt, die Gesetze Gottes interpretiert und nutzt, wie er sie braucht. Unter dem Deckmäntelchen der Liebe und Fürsorge versteht sich. Eine heilige väterliche Dreifaltigkeit umgibt Thelma also. Doch nun ist sie erstmals aus dem Haus. Eine Chance zur Selbstentfaltung tut sich auf.

Doch „Thelma“ befreit sich von den Konditionen, die das Genrekino solchen Hexen-Frauen auferlegt. Die Figur weigert sich, zum Abjekt, zum Monster, zum Bösen, zu einer weiteren Carrie zu werden, welche sich moralisch schuldbar macht und so zu einer Form des „Anderen“ abgewertet und abgesondert werden kann. Denn solche Monster, solche „bösen Frauen“ sind es, die der Film und das Publikum zu bestrafen suchen und damit auch immer erfolgreich sind. Doch Thelma ist ein widerständiges, widerspenstiges Weib, das sich nicht den (Genre)-Regeln unterwirft, sondern ihre eigenen sucht. Im Gegensatz zu Carrie, die diesen Regeln vollends ausgeliefert war, besitzt Thelma eine mächtige Waffe: die Erkenntnis. Es ist einerseits ihr Bewusstsein, dass ihre Kräfte und ihre Geschichte eingebunden sind in Jahrhunderte und Generationen von Frauen, die widerständig, mächtig, eigenständig sind. So wir ihre Großmutter, die sie alsbald vom Vater sediert in einem Altersheim findet, denn auch sie hatte Kräfte. Thelma weiß, sie ist nicht allein, sie ist kein Monster, sondern eine weitere Verwirklichung weiblicher Macht, die seit Menschengedenken reguliert, verboten oder zerstört wurde. Und dies stets im Namen des Vaters, sei es der tatsächliche oder der metaphorische.