Ein Traum in Erdbeerfolie

Schick in Dederon

Zweit- und Drittverwertung der dem Bürger zur Verfügung stehenden Produkte der DDR wie Duschvorhänge oder Erdbeerfolie: Was heutzutage einfach weggeworfen wird, daraus machten die Freunde des Regisseurs Marco Wilms vor zwanzig Jahren Kleider. Wilms, seines Zeichens staatlich zertifiziertes Model des Modeinstitutes der DDR zeigt in seinem Film Ein Traum in Erdbeerfolie die kleine Untergrundbewegung ostdeutscher (Über)Lebenskünstler, Designer, Hairstylisten und Models, die aus den minimalen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung standen das Beste machten. Und das nicht nur weil es die damalige Modeszene einiges zu wünschen übrig ließ, sondern um sich abzugrenzen und sich einer Phantasiewelt in den engen Grenzen des eigenen Landes zu schaffen.
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Als Gegenbewegung zur Gleichschaltung der Köpfe und des Aussehens, ließ sich die Gruppe um Wilms so einiges einfallen, um aufzufallen. Sehr zum Ärger der Staatssicherheit veranstalteten die Jugendlichen orgiastisch-fantastische Modeschauen die alles waren, nur nicht DDR-Alltag.


Mother!

Ein Experiment von genialster Brutalität

 

Wenn man nach Darren Aronofskys mother! das Kino verlässt, dann wankend in Körper, Geist und Seele. Genau so fühlt es sich an, wenn ein Film wie eine Waffe benutzt wird, die sich gegen das Publikum richtet und gleichzeitig da ist, um seine heilige menschliche Integrität zu beschützen. Wahrlich, mother! ist eine Schrotflinte, deren Munition einem direkt ins Gesicht geschossen wird und deren Blei vorher in existenzialistische Säure ganzer Philosophengenerationen getaucht wurde, damit sie sich durch das Fleisch frisst, durch die Muskeln und Sehnen, das Fett und die Blutgefäße, bis es da ankommt, wo Aronofsky es haben will: im Kopf, im Herzen und tief, tief in den Eingeweiden.

Im Gewand eines Psychothrillers schleicht sich Aronofsky mit seiner Flinte an. Doch schon der Titel zeigt, dass hier etwas anderes passiert. Das Ausrufezeichen hinter mother ist es, das schon von Anfang an eine Markierung setzt, dass dieser Film nicht das ist, was seine Synopsis glauben macht. Und so beginnt auch der Film mit einer weiteren Markierung. Das zerschlagene Gesicht einer jungen Frau geht in Flammen auf, nachdem es noch eine letzte Träne geweint hat. Dann ein anderes Gesicht. Ein männliches, welches einen Kristall auf einen silbernen Ständer setzt und plötzlich, als würde die Zeit rückwärts laufen, ist alles, was in Flammen aufging repariert und geheilt. Das große Haus baut sich wieder auf. Die Küche, die Zimmer, die Bäder bis hin zum Schlafzimmer, in dem SIE (Jennifer Lawrence, deren Filmrolle wie alle anderen keinen Eigennamen hat) liegt und schläft. Als sie erwacht, sucht sie jemanden. Doch sie ist allein, das Haus groß, unheimlich. Es knarrt und knarzt, es hat ein Eigenleben. Aber eben nicht im Sinne alter Geister, die in Ecken lauern. Das Haus lebt. Sie macht es lebendig. Seit Monaten, vielleicht Jahren baut sie es ganz allein wieder auf. Sie spachtelt die Wände, sie baut, sie putzt, richtet ein. Sie baut ein Haus, ein Zuhause. Für sich und vor allem für IHN, den Dichter (Javier Bardem), der, nachdem sein ganzes Leben in Flammen aufging, nicht mehr schreiben kann. Ihm fehlt die Inspiration, sagt er. Sie gibt ihm derweil alle Liebe, alle Fürsorge und einen sicheren Ort in ihrem gemeinsamen Haus.


Mein Leben - Ein Tanz

Die Leidenschaft der wilden Frau

 

Wenn La Chana tanzt, dann beben nicht nur ihre Füße und ihr Körper, dann bebt die ganze Welt. Denn wenn La Chana tanzt, dann mit purer Leidenschaft und lodernder Inbrunst. Und mit fast unmenschlicher Kraft und Ausdauer. Sie ist die Königin des Flamencos, die Schnellste, die Stärkste, die Beste. Das klingt nach übertriebener Lobhudelei, doch ein Auftritt von ihr genügt und man weiß, dass es stimmt. Auf dem Tanzparkett ist sie eine wilde Frau, unabhängig, stolz und mächtig. Und genau so beginnt Lucija Stojevics prämierter Dokumentarfilm Mein Leben – Ein Tanz. Mit einem Tanz, der das Publikum sofort mit Leidenschaft, Schönheit und Kraft überwältigt. Doch die wilde Frau des Flamencos hat große Verluste erlitten – und von ihnen erzählt Stojevic in ihrem zarten Film.

La Chana bedeutet „die Weise“ in caló, der Sprache der spanischen Gitanos (Roma vom Stamme der Kalé), die den Flamenco in Spanien bis heute stark beeinflussen und dominieren. Schon als Kind wusste La Chana, die eigentlich Antonia heißt, dass sie Tänzerin werden will. Nicht die Rumba, die damals, Anfang der 1950er Jahre in aller Munde war, war es, die ihre Leidenschaft auflodern ließ, sondern der Flamenco. Und sie war begabt. Sehr begabt. Bis heute kann niemand so schnell die Füße bewegen und so viele polymorphe Rhythmen gleichzeitig bedienen wie La Chana. Ihre Schnelligkeit und Kraft wurden nur getoppt von ihrem außergewöhnlichen Talent, sich so in den Rhythmus fallen zu lassen, dass sie niemals Choreographien einüben musste. Wenn La Chana tanzt, dann aus der eigenen Seele heraus, immer improvisiert, immer aus Leidenschaft. Doch zur Leidenschaft gehört auch das Leiden – und davon hat diese Frau mehr als genug erlebt, wurden sie und ihre Kunst doch in eine Gesellschaft geboren, die sie fast ihr gesamtes Leben lang immer wieder limitiere. Denn Gitana zu sein bedeutet, in eine Großfamilie und Kultur hineingeboren zu sein, in denen nur ein einziger das Sagen hat: der Mann. So war es erst ihr Vater, der ihr das Tanzen verbieten wollte, denn nur „schmutzige Frauen“ stellen sich zur Schau. Doch mithilfe ihres Onkels gelang ihr ein Start und Durchbruch in der Flamenco-Szene. Der Vater allerdings wurde abgelöst von ihrem Ehemann, einem ungestümen Mann, den sie mit nur 18 Jahren nach einer versehentlichen Schwangerschaft heiraten musste. Er war fortan ihr Manager. Und je berühmter sie wurde, desto gewalttätiger wurde er.


Branded To Kill

Der Wahnsinn als Methode

 

Es gibt wirklich gute Gründe, warum Branded to Kill einer dieser kleinen Kultfilme ist, die einfach nicht tot zukriegen sind und die in den Herzen der Cinephilen weltweit weiterleben. Und so ergibt es auch Sinn, diesen japanischen Wahnsinn noch einmal aufzulegen und zwar in einer neu abgetasteten Version – eine Special Edition im wahrsten Sinne des Wortes, denn hier wird nicht nur ein Film neu vermarktet – nein, er wird vor allem erhalten in der bestmöglichen Version.
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Wenn man die Geschichte des Filmes nicht kennt und eher zufällig über ihn stolpert, ohne um seinen Kultstatus zu wissen, bemerkt man sehr bald, dass es sich hier um eine recht aberwitzige japanische Variation der Bond-Filme im Yakuza-Style handelt. Gepaart mit einer ordentlichen Portion Film Noir und einer Prise New Wave. Und dann ist da noch dieser Hauptdarsteller (Joe Shishido). Sein Gesicht ist ungewöhnlich proportioniert und macht ihn zu einem echten Hingucker, einem leichten Störfaktor, der fasziniert bis zur letzten Minute. Das ist kein Zufall: Nach nur mäßigem Erfolg hatte sich der Schauspieler die Wangen operativ vergrößern lassen – ein PR-Stunt, der seiner Karriere einen ungeheuren Auftrieb gab.


Touch Me Not

Berühren(d)

 

Adina Pintilies Touch Me Not ist nicht einfach ein Film. Es ist eine Erfahrung. Und eine so intime und so tiefgründige, dass man das Kino entweder frühzeitig verlässt, weil man die Macht dieser Intimität nicht ertragen kann, oder man bleibt bis zum Ende auf die Gefahr hin, dass man das Werk und die Fragen, die es sich stellt, noch lange mit sich herumtragen wird und diese vielleicht sogar ganz fundamentale Änderungen nach sich ziehen.

Touch Me Not ein besonderes Werk und das gleich aus mehreren Gründen. Zuerst ist da der Aufbau. Der Film ist ein Hybrid aus Film, Theater, Performance. Ein Teil der Erzählung rund um die drei Hauptfiguren Laura (Laura Benson), Tómas (Tómas Lamarquis) und Christian (Christian Bayerlein) ist fiktiv, die anderen Teile bestehen aus dem ehrlichen Zeigen und Ausloten der Leben  und Gefühle der SchauspielerInnen selbst, die hier die Figuren zu gleichen Teilen formen. So spielt Laura nicht Laura. Sie ist Laura, eine Frau in ihren 50ern, die ihre eigenen Fragestellungen, ihren eigenen Körper erforscht, wenn auch mitunter in einer fiktiven Handlung. Doch diese wird immer wieder von performativen oder rituellen Akten unterbrochen, die zusammen mit Menschen verübt werden, die sich darauf spezialisiert haben, anderen zu helfen, ihre Sexualität zu erforschen. Da ist Hanna (Hanna Hofmann), eine trans* Sexarbeiterin, die Laura mit Hilfe von Brahms und ihrer charmanten, offenen Art beibringt sich zu öffnen. Da ist Seani (Seani Love), der ihr mit somatischer Körpertherapie und rituellen Akten einen Weg zu ihrem Körper und ihren Ängsten eröffnet. Diesen Sessions wohnt man als Publikum bei. Sie sind intim, ehrlich und in ihrer Offenheit hebeln sie jegliches Schamgefühl aus und erlauben auch dem Publikum eine Öffnung zu finden, die eine Verbindung zum filmischen Geschehen, aber auch zu sich selbst herstellt.


Transit

Geistergeschichten

 

Im Transit zu sein, bedeutet nirgendwo zu sein, nicht verwurzelt zu sein, zu etwas oder irgendwem zu gehören. Man ist in einem Zwischenstadium gefangen. Ohne Vergangenheit, nur mit der hoffnungsvollen Ahnung einer Zukunft und verdammt dazu, im Hier und Jetzt auszuharren, aber ohne wirkliche Anwesenheit. Genau dieses Gefühl vermittelt Christian Petzolds Film Transit, der auf Anna Seghers gleichnamigem Entwicklungsroman basiert. Eine weitere Arbeit nach Phoenix also, die sich mit geisterhaften Zwischenstadien beschäftigt. Und auch dem Nationalsozialismus. Zumindest auf den ersten Blick.

Georg (Franz Rogowski) sitzt in einer Kneipe in Paris, die Polizei im Nacken, die Razzien ausführt in dieser besetzen Stadt, als er einen Auftrag erhält. Zwei Briefe soll er einem anderen Geflüchteten, dem Autor Weidner bringen. Der eine ist von seiner Frau, die ihn bittet, nach Marseille zu kommen, der andere von der mexikanischen Botschaft, die ihm eine Ausreise ermöglichen will. Doch die Briefe erreichen den Schriftsteller nicht. Er hat sich kurz zuvor das Leben genommen. Und so ist es Georg, der mit den Briefen und allen Papieren und Manuskripten Weidners nach Marseille flieht.


Augenblicke: Gesichter einer Reise

Reisen mit Liebe im Herzen und den Augen geschlossen

 

Die Freude über Agnès Vardas Rückkehr auf die Leinwand war schon 2017 in Cannes zu spüren, wo „Augenblicke: Gesichter einer Reise“ außer Konkurrenz seine Weltpremiere erfuhr. Die Kritik war zurecht entzückt von der großen alten Dame der Nouvelle Vague, die fast zehn Jahre keinen Film mehr gemacht hatte. Im Schlepptau hat sie nun J.R., einen jungen Künstler, dem sich Varda verbunden fühlt. Es ist leicht zu sehen warum. Wie Varda ist es J.R. wichtig, die Menschen zu sehen und näher zu betrachten, ihre Geschichten zu hören und daraus Kunst zu machen.

Und so erklärt das ungleiche Pärchen am Anfang dieser filmischen Reise auch das Konzept. Immer wieder werden beide in J.R.s großem Van, der auch als Fotostudio und Fotodrucker dient, durch Frankreich ziehen und es (wieder)entdecken. An Orten, die sie interessieren, bei Menschen, die sie spannend finden, machen sie Halt und zusammen Kunst. Wobei es vor allem J.R.s Kunst ist, der mit Fotodruck auf dünnem Papier überlebensgroße Porträts an Häuserwände, Türme und andere Orte klebt.


Video-Interview: Regisseur Philipp Eichholtz

Filmfest München 2018: Philipp Eichholtz & Martina Schöne-Radunski, KIM HAT EINEN PENIS

 

Das neue deutsche Kino erlaubt sich, vor allem im Indie-Bereich, clever, frech und politisch unkorrekt zu sein. Und deshalb hat Martina Schöne-Radunskis „Kim“ eben auch einen Penis. Weil es geht. Und weil das die ganze Gender-Binarität mal eben ordentlich auf den Kopf stellt. Doch in Philipp Eichholtz KIM HAT EINEN PENIS geht es noch um etwas anderes als Geschlechtsteile …

Das Interview wurde veröffentlicht auf Kino-Zeit.


Video-Interview: Regisseur Xavier Giannoli

Filmfest München 2018: Xavier Giannoli, L'APPARITION - DIE ERSCHEINUNG

 

In Xavier Giannolis L’APPARITION – DIE ERSCHEINUNG wird ein investigativer Journalist vom Vatikan in ein kleines französisches Dorf gesandt, um dort den Umständen einer angeblichen Heiligenerscheinung nachzugehen. Im Interview erzählt er, wie journalistisch er bei seiner Recherche zum Film vorging und inwiefern ein moderner Glaube Raum für Entscheidungen lässt.

Das Interview wurde veröffentlicht auf Kino-Zeit und ist Teil des Extra-Materials der kanadischen DVD-Veröffentlichung des Films.


Video-Feature: Regisseurin Annekatrin Hendel

“Die Gegenwart ist nichts anderes, als das Resultat der Vergangenheit”

 

Wo bleiben sie eigentlich, die ganzen Geschichten aus der DDR? Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall sieht es mau aus im deutsch-deutschen Kino. Wenn es um die DDR geht, dann gibt es zumeist nur Stasi-Spitzel in grauen Anoraks und Opfer des Regimes. Dass das nicht alles ist, was das Kino und die damalige Gesellschaft zu bieten haben, zeigt derzeit nur eine einzige Regisseurin auf: Annekatrin Hendel.

Interview veröffentlicht auf Kino-Zeit und hergestellt für das Sígne-Kollektiv.